Nicht-Besucherforschung

Nicht-Besucherforschung

Audience Development für Kultureinrichtungen

hrsg. von Martin Tröndle

Wiesbaden 2019. 138 Seiten.

ISBN 978-3-658-25828-3 Print, 64,99 Euro
ISBN 978-3-658-25829-0 PDF, 49,99 Euro

 

(md) Martin Tröndle, Kulturwissenschaftler und Professor in Friedrichshafen, legt hier gemeinsam mit anderen Autor*innen eine Besucher/Nicht-Besucherstudie vor, die sich vor allem mit Einstellungen und (Vor-)Urteilen gegenüber hochkulturellen Institutionen wie Theater und Oper befasst. Seit mehr als hundert Jahren beschäftigen sich verschiedene kultursoziologische Theorien mit der gesellschaftlichen Distinktionsfunktion von Kulturrezeption. Dennoch gibt es bis heute weltweit nur eine überschaubare Zahl an Studien, die Nichtnutzer kultureller Angebote empirisch in den Blick nehmen. Über beides geben die Autoren des Bandes einleitend eine lesenswerte Zusammenfassung.

Insbesondere in Deutschland wird seit vielen Jahren eine kontinuierliche und methodisch vereinheitlichte Besucher-/Nichtbesucherforschung gefordert. Die Studie von Tröndle gewinnt insofern auch Modellcharakter. Sie besteht aus einem standardisierten Befragungsteil (1.264 Antworten) und einer qualitativ-experimentelle Erhebung bei 78 Nichtbesuchern. Diese wurden zum Besuch einer kostenlosen Theater-, Musiktheater- oder Opernaufführung eingeladen und vor- und nachher in Mini-Gruppendiskussionen zu ihren Vorerwartungen und Eindrücken nach der Aufführung befragt. Die gesamte Studie wurde unter Studierenden an vier verschiedenen Universitäten in Potsdam und Berlin durchgeführt. Diese Zielgruppe war also sowohl in ihren Voraussetzungen (Abitur, Studium) als auch in der Alterskohorte relativ homogen.

Trotz dieses abgegrenzten studentischen Milieus der Probanden haben knapp 60 % aller Befragten in den zurückliegenden 12 Monaten weder Theater, Oper noch ein klassisches Konzert besucht und zählten insofern zu den Nicht-Besuchern.

„Lediglich 25 Prozent unserer Probanden nehmen die Kultureinrichtungen und ihr Angebot bewusst wahr. Kultureinrichtungen können derzeit zu 75 Prozent der Probanden keine Nähe aufbauen, sie sind nicht in deren Lebenswelt verankert.“ (S.113)

Die Studie befasst sich mit Faktoren in der Sozialisation, die die Wahrnehmung von Kulturangeboten begünstigen. Wie generell vermutet, bestätigt sich die Bedeutung des Elternhauses, in dem der Besuch hochkultureller Veranstaltungen „erlernt“ wird. Hinzu kommen aber auch individuelle Freizeitdispostionen, bei denen „etwas Lernen“, „nachdenken“, „sinnvolle Dinge tun“ eher zum Kulturbesuch prädestinieren als „Spaß haben“ oder „Sport, Wandern etc.“. Auch die Bedeutung der Peer-Group wird in der Studie wieder hervorgehoben: Wenn im eigenen Freundeskreis Party, Gaming oder Streaming als Freizeitbeschäftigung im Vordergrund stehen, wird ein Besuch unwahrscheinlich. Etwa 11 Prozent aller Teilnehmenden lehnen einen Kulturbesuch auch als Begleitung ab und gelten daher als Nie-Besucher.

Diejenigen Teilnehmer der Studie, die sich auf das Experiment des Theater- oder Opernbesuchs eingelassen hatten, formulierten vorab vielfach negative Erwartungshaltungen (altes und steifes Publikum, unklarer Dresscode, unverständliche Texte, Langeweile), die nach dem Besuch teilweise revidiert werden konnten. Für die Arbeit der Kultureinrichtungen leitet sich daher ab, dass es auch um Fragen des „Image“ geht, wobei Tröndle und die Mitautoren hier den Begriff „Nähe“ in den Mittelpunkt stellen, mit sowohl sozialer als auch inhaltlicher Bedeutungsdimension.

„Ein ganzheitliches Erleben des Vorstellungsbesuchs erfordert, dass die Gestaltung des Abends vom Ankommen bis zur Verabschiedung der Gäste, aber auch bereits der Erwartungsaufbau und die Imageentwicklung einer Kultureinrichtung, künstlerische Aspekte wie Literatur-, Stück- und Themenwahl und die Inszenierung, genauso wie die Sozialität des Abends miteinander verknüpft werden, um Nähe in unterschiedlichen Dimensionen herzustellen und vor allem neu zu denken.“ (S.119)

Kultureinrichtungen sollten sich nach Tröndle zu Orten des Wohlfühlens und der sozialen Begegnung entwickeln. Hierbei bieten die Möglichkeiten der Digitalisierung Chancen, um auch bisher nicht aufmerksame Zielgruppen zu erreichen. Die Forderung „Kultur für Alle“ weist er jedoch als unrealistisch zurück.

„Die Forderung Kultur für Alle überfordert Kultureinrichtungen, denn in einer lebensstilsegmentierten Gesellschaft ist es für Erlebnisanbieter nahezu unmöglich, alle Lebensstiltypen gleichermaßen anzusprechen. Das Paradigma Kultur für Alle ist empirisch nicht zu halten. Kultur für alle, die wollen ist die realistischere Forderung.“ (S.114)

Zusammenfassend eine sehr gut aufgebaute und lesbare Publikation, die auch methodisch die wesentlichen Details offenlegt und zur Wiederholung auch in anderen Kontexten einlädt.

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